Vorratsdatenspeicherung entscheidendes Element erfolgreicher Kriminalitätsbekämpfung in vielen Deliktsfeldern - BDK schreibt an Bundesjustizminister
01.11.2022
Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Speicherung von Telekommunikationsdaten sah ich die Notwendigkeit, mit dem nachfolgend veröffentlichten Brief Bundesjustizminister Marco Buschmann die Position des BDK darzustellen und ein Gesprächsangebot zu unterbreiten:
„Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner Entscheidung vom 20.09.2022 zur Speicherung von Telekommunikationsdaten der Aufklärung von Straftaten und damit auch den deutschen Strafverfolgungsbehörden in ihrer künftigen Arbeit enge Grenzen gesetzt. Er hat erwartungsgemäß seine bisherige Linie zur Vorratsdatenspeicherung fortgesetzt und hinsichtlich des deutschen Vorlageverfahrens festgestellt, dass eine anlasslose Speicherung von Vorratsdaten gegen das EU-Recht verstößt.
Der EuGH hat ferner erklärt, dass es unter strengen Voraussetzungen möglich ist, Telekommunikationsanbieter, in Fällen schwerer Kriminalität und für einen begrenzten Zeitraum, dazu zu verpflichten, bestimmte Daten (z. B. IP-Adressen) zu speichern.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter e.V. (BDK) sieht in der Entscheidung des EuGH einen klaren Auftrag an die Regierungskoalition, die seit 2015 bestehende Regelungslücke bei der Vorratsdatenspeicherung zu schließen. Ziel muss es nun schnellstmöglich sein, einen EU-konformen und praktikablen Rechtsrahmen zu schaffen, der die durch den EuGH eröffneten Möglichkeiten, insbesondere zur zeitlich begrenzten Speicherung von IP-Adressen, für die Aufklärung schwerster Straftaten bestmöglich berücksichtigt.
Im Hinblick auf das vielfach diskutierte und auch von Ihnen favorisierte „Quick-Freeze-Verfahren" erlaube ich mir den Hinweis, dass dieses aus Sicht der kriminalpolizeilichen Praxis nicht für eine erfolgreiche Bekämpfung schwerster Straftaten geeignet ist. Insbesondere, weil nur diejenigen Daten mit einer richterlich zu treffenden Anordnung „eingefroren“ werden können, die beim jeweiligen Telekommunikationsdienstleister tatsächlich vorhanden sind.
Für viele Ermittlungsverfahren sind Telekommunikationsverkehrsdaten (Verbindungs- und Standortdaten sowie IP-Adressen) ein wichtiger und oftmals auch einziger Ansatzpunkt zur Ermittlung von Straftätern. Zugleich dienen diese Daten in einer Vielzahl von Fällen aber auch der Verifizierung von Aussagen - etwa bei der Überprüfung eines Alibis zur Entlastung von Tatverdächtigen, zur späteren Lokalisation von Tatorten oder der Identifizierung bislang unbekannter weiterer Tatverdächtiger. Insbesondere eine zeitlich zu kurze Speicherverpflichtung für IP-Adressen lässt aus unserer Sicht befürchten, dass in vielen Deliktsfeldern dramatische Einbrüche bei der Aufklärung schwerer Straftaten zu erwarten sind. Es ist weiterhin zu erwarten, dass die Strafverfolgungsbehörden gezwungen sein werden, den vorhandenen Rahmen zulässiger strafprozessualer Maßnahmen auszunutzen und aufwändigere, in Teilen eingriffsintensivere Maßnahmen zu ergreifen. Dies führt wiederum zur erheblichen Bindung von Personalressourcen, die dann für andere Bedarfe nicht mehr zur Verfügung stehen.
Sehr geehrter Herr Minister Buschmann, mir ist bewusst, dass Sie und Ihr Haus derzeit mit einer Vielzahl von zeitkritischen Regelungsbedarfen konfrontiert sind. Die Vielzahl der Gespräche, die Vertreterinnen und Vertreter des BDK im Nachgang zur Entscheidung des EuGH und in Erwartung einer nun anstehenden gesetzlichen Regelung mit Kolleginnen und Kollegen in den Polizeibehörden und der Justiz geführt haben, hat mich veranlasst, mich mit diesem Schreiben an Sie zu wenden.
Ich darf Ihnen versichern, dass auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden erhebliche Zweifel bestehen, dem staatlichen Schutzauftrag auch künftig im gebotenen Umfang gerecht zu werden, wenn nicht zumindest die Speicherverpflichtungen für IP-Adressen in einem ausreichenden zeitlichen Rahmen gesetzlich festgelegt werden. Die Begrenzung dieser zu schaffenden Norm auf den Kriminalitätsbereich der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und ihrer Darstellungen halte ich für falsch. Vielmehr sollten auch die Phänomenbereiche der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus, der Hasskriminalität und der Cybercrime Berücksichtigung finden.
Ich lade Sie oder eine Vertretung Ihres Hauses herzlich ein, sich von polizeilichen Praktikerinnen oder Praktikern aus „erster Hand“ schildern zu lassen, welche Konsequenzen nicht zu ermittelnde Telekommunikationsverkehrsdaten für das polizeiliche Arbeiten haben. Vor allem aber möchten wir darlegen, zu welcher Frustration es bei hoch engagierten Ermittlerinnen und Ermittlern führt, wenn kriminelle Personen bei schwersten Straftaten nicht überführt werden können.
Mit freundlichen Grüßen,
Dirk Peglow
BDK-Bundesvorsitzender