Kammergericht Berlin zur Verwertung von EncroChat-Daten in deutschen Strafverfahren
30.08.2021
Leitsätze: Die Entscheidung enthält keine Leitsätze.
Auszüge:
- Erwägungen der Vorinstanz:
RN 14: „Die Strafkammer [Große Strafkammer Berlin] meint, die Chat-Kommunikation des Angeklagten, auf die die Anklage sich als maßgebliches Beweismittel stützt, sei aus Rechtsgründen nicht geeignet, die Schuld des Angeklagten zu belegen; sie sei im deutschen Strafverfahren nicht verwertbar.“
RN 15: „1. Die Chat-Nachrichten stammten aus der heimlichen technischen Infiltration des Mobiltelefons des Angeklagten mit dem Ziel, längerfristig Zugriff auf darauf gespeicherte Daten zu erlangen (Online-Durchsuchung) und die laufende Kommunikation zu überwachen (Quellen-Telekommunikationsüberwachung). Dabei handele es sich um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen (sogenanntes IT-Grundrecht) bzw. in das Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 GG).“
RN16: „2. Die Erhebung dieser Daten – durch die französischen Ermittlungsbehörden – sei (bezogen auf den Angeklagten) rechtswidrig gewesen und der darin liegende Grundrechtseingriff somit nicht gerechtfertigt. Die Rechtswidrigkeit ergebe sich bereits daraus, dass die Daten unter Verstoß gegen die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (im Folgenden: RL-EEA) und gegen die zu ihrer Umsetzung erlassenen Regelungen im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) erlangt worden seien. Die Maßnahme sei zudem auch deshalb rechtswidrig, weil bei ihrer Anordnung und Durchführung der nach §§ 100a, 100b StPO erforderliche qualifizierte Tatverdacht nicht vorgelegen habe.“
RN17: „3. Zwar ziehe eine rechtswidrige Beweiserhebung nicht in jedem Falle ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Ein solches Verwertungsverbot komme vielmehr nur ausnahmsweise sowie nach einer Abwägung aller Umstände in Betracht und setze einen besonders schwerwiegenden Rechtsverstoß voraus, der im Einzelfall das staatliche Interesse an der Wahrheitsermittlung und die Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege überwiege. Ein solcher sei hier indes festzustellen.“
- Erwägungen des Kammergerichts:
RN24: „Zutreffend ist zunächst die Einschätzung des Landgerichts, dass maßgebliches Beweismittel zum Beleg der Tatvorwürfe aus der Anklageschrift die EncroChat-Kommunikation des Angeklagten mit mutmaßlichen Mittätern und anderen teils inzwischen namentlich bekannten, teils noch nicht identifizierten weiteren Nutzern des EncroChat-Dienstes ist, weshalb es entscheidend auf die Verwertbarkeit der diesbezüglichen Kommunikationsinhalte ankommt.“
RN25: „Der Senat bejaht die Verwertbarkeit im Ergebnis in Übereinstimmung mit der zu dieser Frage vorliegenden obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. August 2021 – 2 Ws 102/21 [S]; 2 Ws 96/21 –; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Juli 2021 – III 2 Ws 96/21 –; OLG Rostock, Beschluss vom 11. Mai 2021 – 20 Ws 121/21 – BeckRS 2021, 11981 = NJ 2021, 372-374; OLG Schleswig, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 47/21 –, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 23. März 2021 – 20 Ws 70/21 –, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 –, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 Ws 166/20 –, juris). Eine Verwertbarkeit der durch die französischen Ermittlungsbehörden erhobenen Daten setzt zumindest inzident – wenngleich nicht tragend – auch bereits der Beschluss des Kammergerichts vom 30. Dezember 2020 ([1] 161 HEs 24/20 [7-8/20]) voraus.“
In den folgenden RN schildert das Gericht ausführlich die Erhebung der Daten aus den ausländischen Ermittlungsverfahren.
RN51: „§ 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO erlaubt grundsätzlich die Verwendung von Kommunikationsdaten zur Aufklärung von Straftaten aufgrund derer Überwachungsmaßnahmen gemäß §§ 100b, 100c StPO hätten angeordnet werden können (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. August 2021 – 2 Ws 102/21 [S]; 2 Ws 96/21 –).“
RN52: „Die primär für den Datenaustausch zwischen verschiedenen innerstaatlichen Strafverfahren konzipierte Vorschrift des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO gilt auch als Rechtsgrundlage für den grenzüberschreitenden Datenverkehr. Die Norm gestattet auch die Verwendung von Informationen aus ausländischen Strafverfahren (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 –; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl. § 100e Rn. 21). Ihr Regelungsbereich betrifft die Verwendung von Zufallsfunden aus anderen Strafverfahren. In Bezug auf grenzüberschreitenden Informationsaustausch ist insoweit anerkannt, dass sich Fragen der Verwendung und Verwertung nach dem Recht des ersuchenden Staates richten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12 –, BGHSt 58, 32 Rn. 21), also desjenigen Staates, der das Strafverfahren führt und hierbei die aus dem ausländischen Verfahren stammenden Informationen verwenden will. Dementsprechend sind die nationalen Vorschriften auch darauf ausgerichtet, grenzüberschreitende Sachverhalte zu erfassen. Anhaltspunkte dafür, dass dies gerade im Hinblick auf § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO nicht der Fall sein sollte, bestehen nicht. Demzufolge ist die Norm dahingehend auszulegen, dass sie auch Daten erfasst, die in ausländischen Strafverfahren durch solche Maßnahmen erhoben wurden, die jenen nach § 100b StPO entsprechen (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 47/21 –, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 –, juris). Das ist hier in Bezug auf den Angeklagten der Fall. Ob es auch mit Blick auf andere überwachte Personen so war, berührt die Grundrechte des Angeklagten zunächst nicht.“
Beachtlich auch RN55: „Schon die Nutzung der mit Verschlüsselungstechnik versehenen, hochpreisigen Endgeräte begründete im Übrigen jedenfalls vor dem Hintergrund der französischen Ermittlungsergebnisse in den Ausgangsverfahren wegen der Beteiligung am organisierten illegalen Betäubungsmittelhandel einen entsprechenden Anfangsverdacht gegen die Nutzer solcher – für eine konventionelle Kommunikation eher ungeeigneter – Geräte.“
Fundstelle(n):
- Entscheidung im Volltext auf openjur
- Besprechung auf LTO vom 02.09.2022
- Besprechung auf Rechtslupe
- Kritische Besprechung auf HRRS, Ausgabe Januar 2022, 23. Jahrgang
Hinweis: das Kammergericht fungiert als Oberlandesgericht des Landes Berlin.