Interview: Polizei bei G20 überfordert "Eine Form von organisierter Kriminalität"

14.07.2017

Bei den Gewaltexzessen rund um den G20-Gipfel hat die Polizei in Hamburg Probleme, die Lage unter Kontrolle zu halten. Das sei absehbar gewesen, sagt Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Die Schuld sieht er aber nicht bei Olaf Scholz.
Interview: Polizei bei G20 überfordert "Eine Form von organisierter Kriminalität"

n-tv.de: "Wir sind sehenden Auges ins Verderben geschickt worden" - das war eine Ihrer Kernaussagen in der Sendung "Anne Will". Was meinen Sie damit konkret?

Jan Reinecke: Wir haben uns schon vor vielen Monaten eindeutig und öffentlich gegen Hamburg als Austragungsort des G20-Gipfels ausgesprochen. Aber ständig haben wir eine Basta-Rhetorik aus der Politik erfahren. Dabei beruhte unsere Einschätzung auch auf Lagebildern und Erkenntnissen des BKA und des Staatsschutzes, die immer wieder darauf hinwiesen, mit wem oder mit was wir es zu tun bekommen könnten. Im Wesentlichen hatte man sehr genau analysiert, mit welcher Art von linksorientierter Gewaltbereitschaft man es zu tun haben wird. Unter dem Strich sind all die Dinge, die in den Lagebildern standen, eingetreten – verletzte Polizeibeamte, Guerilla- bzw. Kleingruppentaktik, die zur Zerstörung von Eigentum und Autos geführt hat.

n-tv.de: War es unmöglich, die Sicherheit zu garantieren?

Jan Reinecke: Es war meine Schlussfolgerung sowie die der Polizeiführung, dass der Austragungsort Hamburg aus strategischer Sicht eine denkbar schlechte Wahl ist. Als die Wahl auf Hamburg fiel, haben sich mutmaßlich 99 Prozent der Polizeibeamten an den Kopf gefasst. Nicht zuletzt wegen der Flora, das linksextremistische Zentrum schlechthin, das uns seit den achtziger Jahren regelmäßig Gewalt beschert - und sich in unmittelbarer Nähe zur Messe befindet.

n-tv.de: Welche Orte wären für solche Gipfel besser geeignet?

Jan Reinecke: Auf alle Fälle weniger urbane Orte, wo mit weniger gewaltbereiten Kriminellen und Störern zu rechnen ist und die einfacher zu sichern sind. Nicht umsonst sind in der Vergangenheit ja Orte wie Heiligendamm und Elmau für kleinere Gipfel gewählt worden.

n-tv.de: Mit welchen Problem-Gruppen waren Sie und Ihre Kollegen konkret konfrontiert?

Jan Reinecke: Wir waren an vielen Fronten im Einsatz. Es gab zum Beispiel die Befürchtung, dass Gefährder wie IS-Rückkehrer den Gipfel für Terrorakte nutzen könnten. Wir konnten auch nicht konkret einschätzen, welche Reaktionen der türkische Präsident Erdogan mit seiner Politik auslösen könnte. In Hamburg gibt es eine große kurdische Minderheit. Die linksorientierte Gewalt war aber am besten analysiert worden. Wir wussten, dass es südeuropäische Gewalttäter gibt, die aus der linken Szene in Hamburg heraus mobilisiert werden. Wir wussten, mit welcher Gewalt zu rechnen sein wird - auch, dass diese andere Dimensionen haben wird als beispielsweise beim 1. Mai oder bei Schanzenfesten, wo sich die Konflikte gebündelt auf der Straße abspielen.

n-tv.de: Inwiefern wären Anreiseverbote sinnvoll gewesen?

Jan Reinecke: Dazu muss man ja die Leute kennen. Deswegen unterstützen wir auch eine Datei über linksorientierte Extremisten, wie sie derzeit im Bund gefordert wird. Hier gibt es aber ein grundsätzliches Problem. In Deutschland besteht eine steinzeitliche IT-Struktur. Seit ungefähr zehn Jahren wird versucht, den sogenannten Polizeilichen Informations- und Analyseverbund, kurz PIAV, zu entwickeln. Dieser scheitert aber immer wieder an der föderalen Struktur der Bundesrepublik, sprich den Einzelinteressen der Bundesländer. Die Politik verlangt nun mit einer europaweiten Datenbank den ganz großen Wurf. Das halte ich für absolut notwendig. Aber das ist ferne Zukunftsmusik. Die bundesdeutschen Politiker sollten erst einmal ihre eigenen Hausaufgaben machen und Deutschland auf einen IT-Standard heben, damit wir in Hamburg beispielsweise wissen, was die bayrische Polizei feststellt und andersherum.

n-tv.de: Helfen dann nur mehr Polizisten, solange es eine solche Datenbank noch nicht gibt?

Jan Reinecke: Wenn man die Art und Weise betrachtet, in der einige Kriminelle vorgegangen sind, muss man feststellen, dass wir es mit einer Form von organisierter Kriminalität zu tun bekommen haben, die verabredet in Kleinstgruppen operiert und sich durch häufige Kleidungswechsel für Maßnahmen "unsichtbar" macht. Dies unterscheidet sich deutlich von der Art gewaltsamer Auseinandersetzungen, wie wir sie beispielweise zu Hafenstraßenzeiten in Hamburg hatten. Also kein schwarzer Block, der in der Mitte der Straße stehen bleibt oder sich in einem Wohnhaus verschanzt, Steine und Flaschen schmeißt und den man dann mit gewohnten Maßnahmen wie Bereitschaftspolizei und Wasserwerfern beikommen kann.

n-tv.de: Sondern?

Jan Reinecke: Anstatt immer nur auf polizeiliche, uniformierte Präsenz zu setzen, wäre die Politik gut beraten, auch die Kriminalpolizei deutlich zu stärken. So müsste die Kripo erheblich stärker mit operativen Kräften ausgestattet werden, die ebenfalls in Kleinstgruppen verdeckt operieren können. Es sind Methoden zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität gefragt und nicht nur polizeiliche Präsenz. Uns Kriminalbeamte ärgert, dass die Politik immer nur das subjektive Sicherheitsbewusstsein der Bürger im Auge hat, was sie mit polizeilicher Präsenz stärken möchte. Im Prinzip wird der Bürger aber getäuscht, weil die Strafverfolgung hier viel zu kurz kommt und gerade Kriminalität, die im Verborgenen stattfindet, nicht verfolgt wird.

n-tv.de: Es gibt zahlreiche Videos und Berichte über unangemessenes, mitunter brutales Verhalten von Polizisten gegenüber friedlichen Demonstranten und Journalisten. Wann und wie werden diese Vorwürfe aufgearbeitet?

Jan Reinecke: Strafanzeigen gegen Polizisten werden in Hamburg absolut integer aufgearbeitet. Dafür zuständig ist das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE), das in Hamburg außerhalb der Polizeiorganisation stehend, direkt dem Staatsrat für das Innere untergeordnet ist. Dort werden die Sachverhalte neutral bewertet und mit großer Sorgfalt bearbeitet.

n-tv.de: Wie fällt Ihre Bilanz zum G20-Gipfel in Hamburg aus?

Jan Reinecke: Unserer Kritik am Austragungsort Hamburg wurde immer mit folgendem Dreiklang an Argumenten entgegnet: Das muss eine Demokratie aushalten können, nur eine Großstadt wie Hamburg verfügt über eine angemessene Logistik für solche Gipfel und die vielzitierte Weltoffenheit unserer Metropole. Gegen diese Argumente stehen nun nahezu 500 verletzte Polizeibeamte, Sachschäden in Millionenhöhe und total verstörte Bürgerinnen und Bürger, die den Glauben an die Politik und hoffentlich nicht auch an ihre Polizei verloren haben. War es das wert? Natürlich nicht! Und es tut weh, Recht bezüglich der Ungeeignetheit Hamburgs als Austragungsort des G20-Gipfels gehabt zu haben. Ich bin zornig, dass die Warnungen im Vorfeld politisch ignoriert wurden.

n-tv.de: Trägt also die Politik die Verantwortung?

Jan Reinecke: Definitiv. Unter Wirtschaftskriminalisten, wie ich es bin, gibt es einen Leitsatz: Der, der einlädt, zahlt auch die Rechnung. Die politischen Scharmützel seitens der Hamburger CDU finde ich unerträglich. Es macht wenig Sinn, im Ersten Bürgermeister Olaf Scholz den Sündenbock finden zu wollen. Denn die Einladung kam aus dem Bundeskanzleramt. Es ist merkwürdig, dass das im Raum stehen bleibt. Denn die Lagebilder sprachen gegen Hamburg, und in der Vergangenheit hatte man sich bewusst für ländliche Austragungsorte entschieden, um genau die Ereignisse vom vergangenen Wochenende zu verhindern. Die Verantwortung trägt das Bundeskanzleramt, weil es die Einladung für Hamburg ausgesprochen hat.

Mit Jan Reinecke sprach Christoph Rieke

Weblink:

http://www.n-tv.de/politik/Eine-Form-von-organisierter-Kriminalitaet-article19928750.html

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