EuGH zur Interpol-Fahndung und Einstellung des Verfahrens

12.05.2021

EuGH, Urteil vom 12.05.2021, Az. C-505/19. Schlagworte: Fahndung, Interpolfahndung, Red Notice, Strafklageverbrauch, Verfahrenseinstellung, Art. 50 GRCh, SDÜ.
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Leitsätze: 

  1. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist, und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sind dahin auszulegen, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertragsstaats des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
  1. Die Vorschriften der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und Art. 50 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie der Verarbeitung der in einer von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer in einem Vertragsstaat des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie (EU) 2016/680 erfüllt, insbesondere im Sinne von deren Art. 8 Abs. 1 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde wahrgenommenen wird.
  1. Frage 5 ist unzulässig.

 

Ergänzende Leitsätze aus der Besprechung in HRRS 2021 Nr. 610, von Bearbeiter: Christoph Burchard: 

  1. Das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung gilt in ständiger Rechtsprechung auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren wie das Verfahren gemäß § 153a StPO, in denen die Staatsanwaltschaft eines Vertragsstaats ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in dem Vertragsstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat (Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge, C?187/01 und C?385/01), sofern die Entscheidung der Staatsanwalt auf einer Prüfung in der Sache beruht (Miraglia, C?469/03). (Bearbeiter)
  1. Was das mit Art. 54 SDÜ verfolgte Ziel angeht, geht aus der Rechtsprechung hervor, dass das in dieser Vorschrift aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern soll, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, um Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem bei fehlender Harmonisierung oder Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanfechtbar gewordene Entscheidungen staatlicher Stellen beachtet werden. In diesem Zusammenhang ist Art. 54 SDÜ nämlich im Licht von Art. 3 Abs. 2 EUV auszulegen, wonach die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bietet, in dem - in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen u. a. in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität - der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C?486/14). Insbesondere geht aus der Rechtsprechung hervor, dass eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können muss, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen (Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C?467/04). (Bearbeiter)
  1. Die Behörden eines Vertragsstaats sind nur dann verpflichtet, von der strafrechtlichen Verfolgung einer Person wegen bestimmter Taten oder der Unterstützung eines Drittstaats bei der Verfolgung der betreffenden Person durch deren vorläufige Festnahme abzusehen, wenn feststeht, dass die Person wegen derselben Tat bereits von einem anderen Vertragsstaat im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt worden ist, so dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. Solange nicht feststeht, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, sind mithin sowohl die Behörden eines Vertrags- als auch die eines Mitgliedstaats befugt, eine Person, die Gegenstand einer von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, vorläufig festzunehmen. (Bearbeiter)
  1. Sobald die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats, in den sich diese Person begibt, davon Kenntnis erlangen, dass in einem anderen Vertrags- oder Mitgliedstaat eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung in Bezug auf die von der genannten Red Notice erfassten Taten greift - gegebenenfalls nach Einholung der erforderlichen Informationen bei den zuständigen Behörden des Vertrags- oder Mitgliedstaats, in dem der Strafklageverbrauch eingetreten sein soll -, stehen sowohl das gegenseitige Vertrauen der Vertragsstaaten, das Art. 54 SDÜ impliziert (siehe oben, Rn. 80), als auch die in Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 50 der Charta garantierte Freizügigkeit einer vorläufigen Festnahme bzw. Inhafthaltung der betreffenden Person durch diese Behörden entgegen. In diesen Fällen wäre die mit der vorläufigen Festnahme der Person, die Gegenstand der Red Notice ist, verbundene Beschränkung von deren Freizügigkeit in diesen Fällen nicht durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit gerechtfertigt, da die Person wegen der von dieser Red Notice erfassten Taten bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist. (Bearbeiter)
  1. Um in solchen Fällen die praktische Wirksamkeit von Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, zu gewährleisten, obliegt es den Mitglied- und Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die es den betroffenen Personen ermöglichen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu erwirken, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. (Bearbeiter)
  1. Nach Art. 87 RPD sind die Mitgliedstaaten von Interpol, wenn eine Person, die Gegenstand einer Red Notice ist, in ihrem Hoheitsgebiet gefunden wird, nur dann verpflichtet, die gesuchte Person vorläufig festzunehmen, wenn eine solche Maßnahmen „nach [ihren] Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Verträgen zulässig“ ist. In Fällen, in denen die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil die betreffende Red Notice Taten betrifft, bei denen das Verbot der Doppelbestrafung greift, verstößt ein Mitgliedstaat von Interpol, wenn er die betreffende Person nicht vorläufig festnimmt, daher nicht gegen seine Verpflichtungen als Mitglied von Interpol. (Bearbeiter)
  1. Die von den Behörden eines Mitgliedstaats auf der Grundlage des nationalen Rechts vorgenommene Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken dieses Mitgliedstaats stellt eine Verarbeitung dieser Daten dar, die unter die Richtlinie 2016/680 fällt. (Bearbeiter)
  1. Die Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten ist nicht mehr erforderlich, wenn die betreffende Person wegen dieser Taten bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, so dass die betroffene Person gemäß Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 von dem Verantwortlichen verlangen können muss, sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen. Werden die Daten jedoch weiter gespeichert, müssen sie mit dem Hinweis versehen werden, dass die betreffende Person in einem Mitglied- oder Vertragsstaat aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Taten nicht mehr verfolgt werden darf. (Bearbeiter)

  

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