EGMR zur polizeilichen Tatprovokation
15.10.2020
EGMR, Urteil vom 15.10.2020, Az. 40495/15, 40913/15 und 37273/15. Schlagworte: Tatprovokation, agent provocateur, Verdeckte Ermittlungen, Vertrauensperson, Strafzumessung, Faires Verfahren.
15.10.2020
Das Urteil steht aktuell noch nicht in deutscher Sprache zur Verfügung. Das Thema wurde in der HRRS (2020 Nr. 1163) aufbereitet. Bearbeiter Karsten Gaede hat folgende Leitsätze entwickelt:
Leitsätze (inoffiziell):
- (Weiterer) Einzelfall der mit einem Strafzumessungsabschlag nicht ausgeräumten Verletzung des Rechts auf ein faires Strafverfahren durch eine staatliche Tatprovokation.
- Es ist Aufgabe der Polizei, Straftaten vorzubeugen und nicht, zu ihnen anzustiften. Das öffentliche Interesse an der Straftataufklärung rechtfertigt nicht den Rückgriff auf Beweise, die aus einer staatlichen Tatanstiftung herrühren. Alle aus einer polizeilichen Tatanstiftung entstammenden Beweise müssen aus dem Strafverfahren ausgeschlossen werden bzw. müssen vergleichbare Konsequenzen zum Beispiel durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses gezogen werden. Niemand darf für eine Straftat bestraft werden, die durch eine staatliche Tatanstiftung bestimmt wurde. Dies gilt auch dann, wenn eine erhebliche Strafmilderung vorgesehen wird und der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat.
- Eine gegen Art. 6 EMRK verstoßende mittelbare Tatprovokation kann auch vorliegen, wenn zwischen den provozierenden staatlichen Stellen und dem Provozierten zwar kein direkter Kontakt bestand, seine Tatbegehung jedoch auf der Provokation beruht und seine Einbeziehung für den Staat absehbar war. Erforderlich ist jedoch, dass die Tatmitwirkung als durch die Provokation bestimmt erscheint. Daran kann es fehlen, wenn der von einer Person übernommene Tatbeitrag nicht mehr unmittelbar Teil des von den Behörden selbst näher angestoßenen und als scheinbar sicher dargestellten Tatgeschehens war und es den Anschein hat, als habe der Betreffende schlicht eine sich bietende günstige Gelegenheit genutzt. Die Aburteilung einer kausal infolge einer unzulässigen Tatprovokation entstandenen Tatmitwirkung ist nicht stets ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK.
- Die Individualbeschwerde mit der Rüge einer unzulässigen Tatprovokation kann vor dem Hintergrund der konventionsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen auch dann zulässig sein, wenn sie von einem nahen Angehörigen (hier: die Ehefrau) erhoben wird.
Fundstelle(n):
- Kommentierte Version des Urteils in HRRS, Nr. 1163 (Bearbeiter Karsten Gaede)
- Besprechung des Urteils, Dr. Yannic Hübner, in HRS Ausgabe November 2020