Das rechtsterroristische Attentat von Halle – (m)eine Einordnung
22.10.2019
Nach dem Anschlag in Halle diskutieren Politik und Öffentlichkeit in einem Maße über die Bekämpfung des Rechtsextremismus und -terrorismus, wie wir es nach dem Auffliegen des NSU nicht mehr kannten. Gut so! Dennoch müssen einige kritische Zwischentöne erlaubt sein. Ich möchte sie an der Frage festmachen, die mir am bedeutendsten erscheint: War das Attentat von Halle, das der Täter ausgerechnet gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland richtete und das ein Türblatt weit von einem Massaker entfernt war, ein unvorhersehbares, plötzlich eintretendes Ereignis?
Ich meine, man wird die Frage nicht ohne Weiteres mit „Ja“ beantworten können. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht erst neuerdings ein Klima der Unsicherheit beklagen. Die politisch und medial aufgeworfenen Verweise und Debatten über eine teilweise verrohte und polarisierte Gesellschaft, eine Entgrenzung der Sprache (im Inter- net), „geistige Brandstifter“ unter den Politikern einer rechtsradikalen Partei, einen Anstieg der Politisch Motivierten Kriminalität insbesondere bei rassistischen und antisemitischen Straftaten und die Betrachtung rechtsextremer Ideologien sind allesamt richtig. Bezogen auf die konkrete Tat in Halle, die neben den beiden Todesopfern und den Schwerverletzten viele traumatisierte Menschen zurückließ, greift diese Perspektive allerdings zu kurz.
Rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen legen es darauf an, das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden, das Parteiensystem und die Presse zu erschüttern. Sie rütteln damit an wesentlichen Grundpfeilern eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats. Dabei brechen sie immer wieder bewusst sprachliche Tabus und verschieben die Grenzen des Anstands kontinuierlich nach unten. Diese Polarisierung der Bevölkerung bildet gleich im doppelten Sinne einen Nährboden.
Einerseits ist sie die Grundlage für die Wählerstimmen der Extremistenparteien. Andererseits sorgt sie für eine Zunahme politisch motivierter Kriminalität. Im Sinne der kriminologischen Neutralisierungstheorie sehen sich Täter gerechtfertigt, wenn sie Hassbotschaften verbreiten, Politiker bedrohen oder gar mit Mitteln der Gewalt ihrer extremistischen politisch-ideologischen Überzeugung Ausdruck verleihen wollen. Anders formuliert: Es gibt eine Korrelation – in Teilen womöglich eine Kausalität – zwischen politischen Aktivitäten populistisch- extremistischer Parteien und der Entwicklung Politisch Motivierter Kriminalität. Daher ist nicht erst seit den letzten Wochen klar, dass hier ein verstärkter Fokus der Sicherheitsbehörden liegen muss.
Bei Redaktionsschluss betrug die Zahl der Gefährder aus dem Phänomenbereich Rechts 43. Es ist nicht nur richtig, sondern lange überfällig, künftig konsequent das gleiche wissenschaftliche Methodenmodell (RADAR) anzuwenden, das die Sicherheitsbehörden bereits im Bereich islamistischer Terrorismus nutzen. Dadurch wird es prognostisch zu einem deutlichen Anstieg der Gefährderzahlen kommen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die personelle Kapazität der Polizeien der Länder und des BKA. Nach aller Wahrscheinlichkeit werden in den meisten Fällen Tätertypen wir der von Halle auch durch solche Maßnahmen nicht identifiziert werden können.
Die Schlussfolgerungen, die die Politik aktuell zieht, sind daher unzureichend. Zwar werden viele sinnvolle kriminalpolitische Veränderungen diskutiert, jedoch finden diese ihre Grenzen an der Stelle, an der potenzielle Täter ins Spiel kommen, die die u. g. Kriterien erfüllen.
Das hat damit zu tun, dass menschenverachtende Ideologien zwar fraglos mit ursächlich für die Entstehung von herausragenden Gewalttaten sind. Eine hinreichende Bedingung für amokähnlich ausgeführte terroristische Anschläge ist dies jedoch nicht. Es müssen Faktoren hinzutreten, die in der Persönlichkeit des Täters zu finden sind. Hierzu gibt es gute Forschungsergebnisse, z. B. von der Universität Gießen, von Prof. Dr. Britta Bannenberg. Sie veröffentlichte zahlreich zu sogenannten Amok- und Attentätern. In ihrem Buch „AMOK – Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern“ beschrieb sie schon im Jahr 2010 Fakten über jugendliche Täter, die heute beunruhigend einschlägig klingen. Sie hielt Amok für eine falsche Bezeichnung, denn „die Benennung einer Tat als ,Amoktat‘ legt eine unvorhersehbare und plötzlich eintretende Katastrophe unausgesprochen nahe. Dem ist aber in der Regel nicht so. In den meisten Fällen gibt es Anzeichen für eine problematische Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen, die insbesondere den Eltern nicht verborgen bleibt. Nur – sie rechnen nicht unbedingt mit dem Schlimmsten. Meistens verdrängen und verschweigen sie ihr Unbehagen und verzichten auf frühzeitige Einschaltung professioneller Institutionen wie etwa der Kinder- und Jugendpsychiatrie.“
Britta Bannenberg beschrieb beim Deutschen Präventionstag im Jahr 2015 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen jugendlichen und erwachsenen Tätern: Sie seien weit überwiegend männlich, unangemessen kränkbar, hätten Selbstwertprobleme, seien egoistisch und nicht emphatisch, hätten eine hohe Waffenaffinität, sie seien psychopathologisch auffällig und hätten Bindungs- und Beziehungsprobleme. Der Vater des Täters in Halle beschreibt seinen Sohn nach der Tat in Interviews wie folgt: Sein Sohn sei ein Eigenbrötler gewesen. „Er war weder mit sich noch mit der Welt im Reinen, gab immer allen anderen die Schuld“, habe er gegenüber der BILD gesagt. Sein Sohn habe nur wenige Freunde gehabt und stattdessen viel Zeit mit dem Internet verbracht. „Der Junge war nur online.“ Der Vater sei zuletzt nicht mehr an seinen Sohn „rangekommen“. Es habe immer wieder Streit gegeben. Sein Sohn kommunizierte offenbar in Online-Foren, in denen sich extremistische Teile der sogenannten Gamerszene in einer geradezu perversen und menschenverachtenden Weise darüber austauschen, welche Täter auf welche Weise wie viele Menschenleben ausgelöscht haben.
Der ZDF-Terrorexperte und Studioleiter in Washington, Elmar Theveßen, berichtete in der Fernsehsendung Maybrit Illner davon, dass es in diesen Foren ein gegenseitiges Aufstacheln und Hochschaukeln darüber gebe, wer den nächsten „Rekord“ aufstellen würde und mehr Menschen umbringen würde, als Anders Behring Breivik im Jahr 2011 in Norwegen. Dort fanden 77 Menschen den Tod. Spätestens seit dieser Tat war klar, dass es überall auf der Welt zu Nachahmungstaten und -tätern kommen könnte, da nicht nur die von Breivik verbreitete krude, rechtsextreme, antisemitische, antimuslimische, frauenfeindliche und menschenverachtende Ideologie, sondern auch die perfide Tatausführung weltweite Verbreitung fand. Das kalt-berechnende und empathiefreie Töten wurde zuletzt vom Täter in Christchurch (Neuseeland) insoweit noch verschlimmert, als das er seine Tat einschließlich der unmittelbaren Vorbereitung live ins Internet übertrug.
Es existieren also offenbar Menschen unter uns – zum Glück wenige – bei denen bestimmte tatfördernde Persönlichkeitsmerkmale auf radikale und extremistische Ideologien treffen. Diese Merkmale sind nicht selten mit diagnostizierbaren Persönlichkeitsstörungen (schizotypisch, narzistisch, paranoid) und Elementen wie Menschenverachtung per se, einer Einzelgängerproblematik mit egozentrischer Sicht verbunden, bei der die Täter ihre Wut, Rachegelüste und empfundene Unterlegenheit in extreme Gewalt transformieren wollen, um es zu Heldentum und Berühmtheit zu bringen. Soweit die Forschungsergebnisse.
Diese scheinen leider nicht bei allen Redaktionen der Medien angekommen zu sein. Jedenfalls erklären die vorgenannten Erkenntnisse, wie überaus schädlich eine Blattpolitik, wie die des Leiters der Chefredaktion der BILD-Zeitung, Julian Reichelt, ist. Er verhalf den Tätern von Christchurch und Halle nicht nur dadurch zu Ruhm, dass er sie auf die Titelseiten des Blattes und die Startseiten der Homepage brachte. Er machte auch vor der Veröffentlichung von Ausschnitten aus Tätervideos nicht Halt.
Die Charakterisierung von besonders problematische Täterpersönlichkeitstypen darf indes nicht dazu führen, dass dem Kampf gegen die vielen ideologischen und geistigen Brandstifter in Parteien, Medien und Gesellschaft mit dem Argument der Boden entzogen würde, man habe es ja mit „einem Irren“ zu tun. Ich stimme dem damaligen Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu, der 1993 nach den ausländerfeindlichen Morden von Solingen und Mölln sagte: „Einzeltäter kommen hier nicht aus dem Nichts.“
Ich will es versuchen, so zu beschreiben: Die beiden konzentrischen Kreise um die Psychopathologie der Täter und den ideologisch-populistischen Funkenflug der geistigen Brandstifter sind nicht deckungsgleich. Sie weisen jedoch große Schnittmengen auf. Auf komplexe Problemzusammenhänge lassen sich selten einfache Lösungen finden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass alle Parteien zumindest vordergründig ihre politischen Programme abspulen. Es wäre in der Tat auch viel schwieriger, die gesamte Gesellschaft in die Pflicht und Verantwortung zu nehmen. Sowohl Politik als auch die Sicherheitsbehörden müssten zugestehen, dass sie alleine nicht in der Lage sind, das Problem vollständig in den Griff zu bekommen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter wird sich diesen Themen verstärkt zuwenden. Am 30. und 31.3.2020 führt die Kripo Akademie ein Symposium zum Thema Rechtsextremismus (www.kripo-akademie.de) durch. Bereits am 30.1.2020 widmen in der Landesvertretung Thüringen die nächsten Berliner Sicherheitsgespräche diesem Themenkomplex. Anlässlich dieser Veranstaltung wird der mehrfach zitierten Kriminologin Britta Bannenberg als Anerkennung ihrer Verdienste die höchste Auszeichnung des BDK, der Bul le Mérite, verliehen werden.
Frau Professor Bannenberg liefert auch die treffendste Zusammenfassung der hochkomplexen Herausforderung:
„Die Gesellschaft ist gefordert, will sie weitere Taten mit furchtbaren Folgen für die Opfer, die Angehörigen (...), aber auch für die Familien der Täter verhindern. Für die meisten ist das Leben nicht mehr so wie zuvor. Es ändert sich grundlegend und bedeutet für manche jahrelanges Leiden und die Aufgabe von Zielen, Hoffnungen und Träumen.“
Für Landes- und Bundesregierungen bedeutet das: Es handelt sich nicht um eine Ressort-, sondern eine Kabinettsangelegenheit – man könnte es auch Chefsache nennen. Für die Sicherheitsbehörden bedeutet das: Sie müssen mehr denn je personell aufgestockt und besser qualifiziert werden. Es bedeutet aber auch eine Förderung von kompetenten, niederschwelligen Ansprechstellen wie dem Beratungsnetzwerk Amokprävention der Uni Gießen (https://www.uni-giessen.de/fbz/fb01/professuren-forschung/professuren/bannenberg/news/beratungsnetzwerk-amokpraevention), zusätzliche Aus- und Fortbildung bei den Sicherheitsbehörden und Sensibilisierung im jeweiligen sozialen Umfeld. Für alle Individuen, Organisationen und Institutionen in der Gesellschaft steckt in der Forderung nicht weniger als das besonders hehre Ziel, angesichts solcher Taten geistig-moralisch enger zusammenzurücken. Jeder hört täglich viele hetzerische und spalterische Sprüche darüber, was „wir hier unten, gegenüber denen da oben“ oder „wir hier drinnen gegenüber denen da draußen“ tun oder lassen müssten. Wir mögen uns jedoch daran erinnern, wie viel mehr Vorzug der ethisch-moralischen Vorstellung zu geben ist, dass wir letztlich alle zusammengehören. Eine Gesellschaft ist gut mit einem Organismus vergleichbar. Dass Teile eines Organismus sich gegenseitig angreifen, kennen wir auch hier. Wir nennen sie Krebszellen.
Sebastian Fiedler
Bundesvorsitzender