BVerfG zur Unverhältnismäßigkeit bei nur vagem Tatverdacht und der Eignung eines anthropologischen Identitätsgutachtens

29.07.2020

BVerfG, Beschluss vom 29.07.2020, Az. 2 BvR 1188/18. Schlagworte: Wohnungsdurchsuchung, Durchsuchung, Durchsuchungsbeschluss, Tatverdacht, Optische Ähnlichkeit, Identitätsgutachten.
Arek Socha - Pixabay

Das Urteil selbst enthält keine Leitsätze. Es erfolgt der Rückgriff auf die Aufbereitung in HRRS 2020 Nr. 1028, Bearbeiter: Holger Mann, dort auch Volltextveröffentlichung des Beschlusses. 

Leitsätze des Bearbeiters (Holger Mann): 

  1. Der Verdacht der versuchten gefährlichen Körperverletzung wegen Flaschenwürfen eines Demonstrationsteilnehmers auf Polizeibeamte wiegt nur wenig schwer, wenn das Gericht zwar eine optische Ähnlichkeit des Beschuldigten mit dem auf Videoaufnahmen abgebildeten Täter feststellen konnte, sich jedoch zur Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens veranlasst gesehen hat, das nach einem jedenfalls den methodischen Mindeststandards genügenden Bildvergleich zu dem Ergebnis gelangt ist, eine Nichtidentität sei sehr wahrscheinlich.
  1. Im Hinblick auf das Fehlen eines gesicherten Stands der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten ist es zwar vertretbar, ein derartiges Gutachten als weniger geeignet als eine Durchsuchung nach Beweisgegenständen wie etwa der Täterkleidung anzusehen. Allerdings ist es im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, wenn der Auffindeverdacht nur gering ist, weil die Tat bereits mehrere Jahre zurück liegt und der anwaltlich vertretene Beschuldigte seit langem Kenntnis von dem Verfahren hat.
  1. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.
  1. Eine Durchsuchung ist unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des im jeweiligen Verfahrensabschnitt bestehenden Tatverdachts steht.

 

Externer Link: Bundesverfassungsgericht: https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/bverfg/18/2-bvr-1188-18.php