BVerfG zur Rechtmäßigkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel)

01.12.2020

BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020, Az. 2 BvR 916/11 und 2 BvR 636/12. Schlagworte: Elektronische Aufenthaltsüberwachung, elektronische Fußfessel, Führungsaufsicht.
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Leitsätze: 

  1. Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
  1. 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO ist materiell verfassungsgemäß:

a) Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Möglichkeit, den Aufenthaltsort eines Weisungsbetroffenen gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO anlassbezogen festzustellen, greift weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch führt sie zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren „Rundumüberwachung“.

b) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.

c) 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB verstößt nicht gegen das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine wesentliche Erschwerung der Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft oder der Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist nicht gegeben. Die mit der „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit sind jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter gerechtfertigt.

d) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verletzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. § 463a Abs. 4 StPO trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten Rechnung.

  1. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat. Dessen Notwendigkeit kann sich im Einzelfall jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergeben.
  1. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen.

 

Sachverhalt und Hintergrund aus der PM:  

Die elektronische Aufenthaltsüberwachung wurde durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010, in Kraft getreten am 1. Januar 2011, eingeführt. Anlass war das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009, M. v. Deutschland, Nr. 19359/04. Darin hielt der EGMR die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der im Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Höchstfrist von zehn Jahren für konventionswidrig. Das Urteil hatte zur Folge, dass Personen mit negativer Rückfallprognose in die Freiheit entlassen und sodann teilweise rund um die Uhr polizeilich überwacht wurden. Die elektronische Aufenthaltsüberwachung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers derartige Überwachungsmaßnahmen entbehrlich machen. Die Aufenthaltsbestimmung könne dabei mittels Global Positioning System (GPS) erfolgen. Voraussetzung sei, dass ein entsprechendes Empfangsgerät am Fuß der Betroffenen angebracht werde.

Die elektronische Aufenthaltsüberwachung wurde in den Katalog der Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht des § 68b Abs. 1 Satz 1 StGB als Nummer 12 eingefügt. Deren Anordnung setzt nach § 68b Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 StGB im Wesentlichen voraus, dass die Führungsaufsicht auf Grund der vollständigen Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren oder der Erledigung einer Maßregel, die aufgrund einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art verhängt oder angeordnet wurde, eingetreten ist und die Gefahr besteht, dass die verurteilte Person weitere qualifizierte Straftaten begehen wird. Die Weisung muss zudem erforderlich erscheinen, um die verurteilte Person von der Begehung weiterer qualifizierter Straftaten abzuhalten. Bei den qualifizierten Straftaten handelt es sich insbesondere um Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung. Die von der Aufsichtsstelle im Rahmen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung gespeicherten Daten dürfen ohne Einwilligung der betroffenen Person nur verwendet werden, wenn dies zu bestimmten Zwecken erforderlich ist (§ 463a StPO). Zu diesen Zwecken gehören insbesondere die Feststellung und Ahndung eines Verstoßes gegen eine Weisung, die Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für gewichtige Rechtsgüter und die Verfolgung einer qualifizierten Straftat.

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