BGH präzisiert die Grenzen rechtswidriger Tatprovokation durch Verdeckte Ermittler

16.12.2020

BGH, Urteil vom 16.12.2021, Az. 1 StR 197/21. Schlagworte: Verdeckte Ermittlungen, Tatprovokation, BtM.
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Leitsätze: Das Urteil enthält keine Leitsätze.

 

Auszug:

RN 19: „(a) Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist anzunehmen, wenn ein Verdeckter Ermittler oder eine polizeiliche Vertrauensperson mit dem Ziel, eine Tatbereitschaft zu wecken oder die Tatplanung zu intensivieren, über das bloße „Mitmachen“ hinaus mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt (BGH, Urteile vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 30. Mai 2001 – 1 StR 116/01 Rn. 15 mwN). Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist (vgl. BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 17; vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 11. Dezember 2013 – 5 StR 240/13, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 8 Rn. 34 mwN; Beschlüsse vom 19. Januar 2016 – 4 StR 252/15 Rn. 3 und vomMai 2015 – 1 StR 128/15, BGHSt 60, 238 Rn. 24 f. mwN). Im Rahmen der erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, aber auch Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen in den Blick zu nehmen (BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 17; vomJuni 2015 – 2 StR 97/14, BGHSt 60, 276 Rn. 24 und vom 23. Mai 1984 – 1 StR 148/84, BGHSt 32, 345, 346 f.).“

 

RN20: „- 10 -

(b) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verletzt eine polizeiliche Provokation Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn sich die Ermittlungsperson nicht auf eine „weitgehend passive“ Strafermittlung beschränkt hat (EGMR, Urteile vom 15. Oktober 2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 112 und vom 23. Oktober 2014 – 54648/09 Rn. 48). Dabei ist zu prüfen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Täter an kriminellen Aktivitäten beteiligt oder tatgeneigt war (vgl. EGMR, Urteile vomOktober 2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 115 und vom 23. Oktober 2014 – 54648/09 Rn. 48 ff.; vgl. auch BGH, Urteile vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18 und vom Mai 2015 – 1 StR 128/15, BGHSt 60, 238 Rn. 27 mwN). Für die Frage, ob eine Person tatgeneigt war, ist – im Anschluss an den Gerichtshof – im Einzelfall u.a. die erwiesene Vertrautheit des Betroffenen mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln, dessen Fähigkeit, solche kurzfristig zu beschaffen, sowie seine Gewinnbeteiligung bedeutsam (vgl. EGMR, Urteile vom 23. Oktober 2014 – 54648/09 Rn. 49 ff. mwN und vom 15. Oktober 2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 115; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18).“

 

RN21: „Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist weiterhin maßgeblich, ob auf den Angeklagten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat (vgl. EGMR, Urteile vom 23. Oktober 2014 – 54648/09 Rn. 52 mwN und vom 15. Oktober 2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15 Rn. 116; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Dezember 2017 – 1 StR 320/17, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 13 Rn. 18).“

 

RN22: „(c) Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen („Aufstiftung“; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2018 – 4 StR 640/17; Urteile vom 30. Mai 2001 – 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51 und vom 30. Mai 2001 – 1 StR 116/01 Rn. 17 f.). In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob der Täter auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung ohne Weiteres eingeht, beziehungsweise sich geneigt zeigt, die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen oder an ihr mitzuwirken (BGH, Urteil vom 30. Mai 2001 – 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51). Eine derartige – auf eine Tat mit erheblich höherem Unrechtsgehalt – gerichtete Tatgeneigtheit ist durch das Tatgericht gesondert festzustellen. Geht die qualitative Steigerung der Verstrickung des Täters mit einer Einwirkung durch die Ermittlungsperson einher, die von einiger Erheblichkeit ist, so liegt ein Fall der unzulässigen Tatprovokation vor. In diesem Falle kann ein Konventionsverstoß angenommen werden, dem entprechend Rechnung zu tragen ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. Mai 2001 – 1 StR 42/01, BGHSt 47, 44, 51).“ 

 

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