BDK BW vor Ort - 5. Tag des Opferschutzes
16.10.2019
Ministerialdirigent Peter Häberle, Leiter der Abteilung Straf- und Gnadenrecht, Ministerium der Justiz und für Europa, begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste der Justiz, der Polizei, der Jugendämter und vielen anderen mit Opferschutz betrauten Organisationen zu dem in diesem Jahr durch das Ministerium der Justiz und für Europa veranstalteten 5. Tag des Opferschutzes zum Thema „Kinder als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten“.
Minister Guido Wolf MdL, Ministerium der Justiz und für Europa, dankte in seinem Grußwort allen im Opferschutz Tätigen für ihre geleistete Arbeit. Er wies u. a. auf die zuletzt erfolgte Verdoppelung der Finanzmittel für die Landesstiftung Opferschutz auf 800.000 €, auf die vor drei Jahren eingeführte und mit bereits 60 Personen landesweit ausgestattete sowie als Koordinierungsstelle bei „PräventSozial“ angesiedelte „Psychosoziale Prozessbegleitung“ und die kürzliche Einweihung des ersten ChildHood-Hauses in Heidelberg hin.
Weiter kündigte er die geplante Einrichtung eines Opferschutzbeauftragten für Opfer von Terroranschlägen und Großschadensereignissen an. Minister Wolf gab abschließend das vorrangige Ziel des Opferschutzes in der weiteren Verbesserung der Vernetzung aller beteiligten Organisationen aus.
Die Besonderheiten der polizeilichen Tätigkeit in Ermittlungsverfahren mit Kindern als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten stellte Frau KHKin Claudia Strickler, Polizeipräsidium Mannheim, KPDir Heidelberg, KK Mannheim, D9.2, vor. Sie zeigte die Herausforderungen ihres Arbeitsbereichs und die Vorgehensweise bei Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf. Auch sie wies auf die Bedeutung der dortigen Vernetzung über entsprechende Arbeitskreise und den im Polizeipräsidium bestellten Opferschutzbeauftragten hin. Frau Strickler unterstrich, dass es auch bei der Kriminalpolizei keine Strafverfolgung um jeden Preis geben darf und der Opferschutz z. B. bei Videovernehmungen im Hinblick auf die Freiwilligkeit des Kindes vorgeht.
Die Aufgaben des Jugendamtes im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Strafverfahren mit Kindern als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten wurden von Frau Dr. Susanne Heynen, Leiterin des Jugendamts Stuttgart, vorgestellt. In einem Überflug über die Jugendhilfe und das Bundeskinderschutzgesetz aus dem Jahr 2012 sprach sie die in Baden-Württemberg intern sehr unterschiedlich organisierten Jugendämter oder die notwendige Qualitätssicherung in der Jugendhilfe durch den bundesweit akzeptierten „Stuttgarter Kinderschutzbogen“ an. Sie wies beispielhaft auf den im SGB VIII manifestierten Beratungsanspruch von Kindern oder den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung sowie auf die erforderliche Kooperation auch zwischen Jugendamt und Polizei in verschiedensten Ebenen hin.
Die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit in Ermittlungs- und Strafverfahren mit Kindern als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten stellte Frau Oberstaatsanwältin Mirjam Weisenburger, Staatsanwaltschaft Heilbronn, vor. Sie zeigte auf, dass gerade die besonders schutzwürdigen Personen als zentrales Beweismittel als Aussage oder objektive Beweise im Verfahren von erheblicher Bedeutung sind, dass aber vielfältige Auswirkungen auch außerhalb des Verfahrens für das Kind, die Familie oder andere Verfahrensbeteiligte zu Tage treten. Frau Weisenburger wies darauf hin, dass die Vernehmung von Kindern, weil hochsuggestibel, meist problematisch ist. Es bedarf viel Erfahrung, um zu unterscheiden, ob das Kind Erlebtes erzählt oder dies aus anderen Gründen aussagt, und um die Befragung als Grundlage für aussagepsychologische Gutachten zu verwenden. Mehrfachvernehmungen gerade von Kindern sind zu vermeiden, was aber in der Praxis bei nicht geständigen Tätern schwer bis unmöglich ist.
Die Besonderheiten der rechtsmedizinischen Untersuchung von Kindern als Opfer von Gewalt-und Sexualstraftaten erläuterte Frau Dr. med. Iris Schimmel, GRUS Tübingen. Durch eine genaue Befunddokumentation und eine Ganzkörperuntersuchung kann frühzeitig geklärt werden, ob ein Befund „normal“ ist oder nicht, ob es sich um typische Verletzungsmuster von Kindesmisshandlungen handelt, wie gerade bei Kindern Verletzungen im Anogenitalbereich spezifisch zu beurteilen sind oder ob ggf. typische Begleitumstände wie z. B. das häufige „doctor-hopping“ festgestellt werden können. Sie wies abschließend darauf hin, dass die Rechtsmedizin sachverständige Fragestellungen beantworten, aber nicht immer die erwarteten Rückschlüsse auf das Tatgeschehen liefern kann.
Die Videovernehmung in Ermittlungs- und Strafverfahren mit Kindern als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten war Thema von Herrn Richter am Amtsgericht Robert Grain, Amtsgericht München. In einem flammenden Vortrag warb er für die Videovernehmung und beschrieb die in seinen 20 Jahren Berufserfahrung mit richterlichen Videovernehmungen gesammelten Erkenntnisse einer vergleichsweise frühen gerichtsverwertbaren Aussage des Kindes, vor allem der gelebten Opferschutzatmosphäre durch spielerisches Kennenlernen des Kindes, die sichtbare Trennung von allen anderen Verfahrensbeteiligten, einer durch die Videovernehmung bedingten hohen Geständnisbereitschaft von Beschuldigten und einer geringeren Notwendigkeit von Aussagebegutachtungen bis zu einem deutlich schnelleren Therapiebeginn.
Die aussagepsychologische Begutachtung von Kindern als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten war Thema von Frau Dipl.-Psychologin Carmen Bargel, Stuttgart, die Ablauf und wesentliche Punkte einer Aussagebegutachtung skizzierte. Dabei ging sie vorab darauf ein, wie in der Begutachtungssituation über die notwendige Trennung von Spiel- und Gesprächsbereich hinaus eine Reduktion von Belastungserleben im Untersuchungssetting realisiert werden kann. Frau Bargel präzisierte die von Herrn Grain genannte kritische Altersgrenze „Kindergartenalter“ auf das Alter von 5 Jahren bzw. in seltenen Fällen auch bereits ab 3 Jahren und zeigte zahlreiche Erkenntnisse auf, wie sich Kinder altersmäßig z.B. in Bezug auf ihr Gedächtnis und auf Täuschungen entwickeln.
Der letzte Vortrag des Tages hatte die Vorstellung des erst am 05.09.2019 eingeweihten Childhood-Hauses in Heidelberg zum Thema. Frau Dr. med. Astrid Helling-Bakki, Funktionsoberärztin Universitätsklinik Heidelberg, umschrieb die auf Basis des skandinavischen „Barnahus“ (wörtlich: „Kinderhaus“) entwickelte und in Deutschland umgesetzte Idee des Childhood-Haus als Bündelung aller beteiligten Institutionen standortnah unter einem Dach.
Frau Helling-Bakki erläuterte die sog. „Barnahus-Standards“ oder auch Leitfaden für den interdisziplinären und ressortübergreifenden Umgang mit minderjährigen Opfern und Zeugen von Gewalt, insbesondere die Vermeidung von Retraumatisierungen, multidisziplinäre und ressortübergreifende Zusammenarbeit im Barnahus, eine so offen wie mögliche Zielgruppe, eine kinderfreundliche Umgebung, ein ressortübergreifendes Case Management, forensische Interviews auf höchstem Standard, medizinische Untersuchungen, therapeutische Leistungen bis zum Aufbau von Kapazitäten und Netzwerken sowie der Prävention durch Weitergabe von Informationen, Schärfen des Bewusstseins und Aufbau externer Kompetenzen. Zusammen mit ihren weiteren Ausführungen über das unerlässliche Netzwerk, die Möglichkeit für Kinder, auch zur Ruhe kommen zu können, bis zur Einrichtung und technischen Ausstattung dieser Kompetenzbündelung unter einem Dach überzeugte sie die Anwesenden.
Als elementar unterstrich Frau Helling-Bakki die goldene Regel des Childhood-Haus, dass das Opfer nach seinem Besuch in einer besseren Position als am Anfang stehen soll.
Ministerialdirigent Peter Häberle konstatierte in seinem abschließenden Resümee, dass die Veranstaltung das Ziel erreichen konnte, die Faktoren in den Prozessen des Opferschutz aus Sicht der jeweiligen Professionen zu beleuchten. Es sollte aufgezeigt werden, was geleistet werden kann, welche Schwierigkeiten bestehen und was verbessert werden kann. Herr Häberle verabschiedete die Teilnehmer in der Hoffnung auf ein Wiedersehen im kommenden Jahr.
Anmerkung von Holger Friebe, Sachbearbeiter auch von Sexualdelikten im KK Waldshut-Tiengen:
Das Projekt Childhood-Haus stellt das derzeitige Optimum in Sachen Opferschutz und perfekter Vernetzung aller Beteiligten dar. Der Hoffnung der Referentin, dass es nicht bei den derzeitigen beiden Projekten in Baden-Württemberg bleibt, müssen Fakten und damit weitere Childhood-Häuser folgen. Realisierbar ist dies vor allem in großen Städten mit allen hierfür erforderlichen Organisationen vor Ort wie z.B. der Rechtsmedizin.
Dieser Bedarf besteht aber auch für ältere Opfer und nicht zuletzt vor allem auch im ländlichen Raum. Es wird sich zeigen, wie auch hier der bestehende Bedarf an Opferschutz ohne den bislang notwendigen erheblichen Zeit- und Personalaufwand für alle Beteiligten und nicht zuletzt für die Opfer gestillt werden kann.
In der Einleitung der Barnahus-Standards heißt es: ‚Das wichtigste Ziel der Standards besteht darin, einen allgemeingültigen operativen und organisatorischen Rahmen vorzugeben, der eine Praxis aufzeigt, mittels derer eine Retraumatisierung verhindert wird und gleichzeitig Zeugenaussagen für das Gericht gesichert werden, und der zudem dem Recht auf Schutz und Unterstützung der Kinder sowie einer kinderfreundlichen Justiz entspricht‘.
Dies ist so einfach und selbstverständlich und doch, wo stehen wir heute und wie weit davon entfernt sind wir derzeit im Alltag?“.
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Bild-Quelle: BDK BW