Artikel: Mit dem Indymedia-Verbot haben sich die Behörden selbst ins Bein geschossen

28.08.2017

Die Seite war nicht nur eine riesige Informationsquelle über Linke, sondern auch über Strukturen der Neonazi-Szene (von Matern Boeselager)
Artikel: Mit dem Indymedia-Verbot haben sich die Behörden selbst ins Bein geschossen

Jetzt ist sie wirklich gar nicht mehr zu erreichen. Ein kleines "Wir sind zur Zeit offline…" auf weißem Grund ist das Einzige, was der Besucher der Seite linksunten.indymedia.org noch zu sehen bekommt.

Das ging schneller, als selbst der Innenminister Thomas de Maizière angekündigt hatte, als er heute morgen das Verbot der "linksextremen Plattform" verkündete. Die endgültige Abschaltung könne noch ein paar Tage dauern, da die Seite "raffiniert gegen solche Maßnahmen geschützt" sei. Ein großer Erfolg für die Sicherheitsbehörden also? Eher im Gegenteil – und das aus zwei Gründen.

Der erste Grund ist relativ offensichtlich: Den Behörden selbst geht eine wichtige Informationsquelle verloren. Der Innenminister hatte recht, als er die Seite als die "bedeutendste Plattform für gewaltbereite Linksextremisten in Deutschland" bezeichnete. Linksunten, der deutsche Ableger der internationalen indymedia.org, war die zentrale Austausch-Plattform für so ziemlich alles, was an linksradikalem Aktivismus in Deutschland stattfand. Nach Anschlägen linker Gruppen veröffentlichten diese regelmäßig hier ihre Bekennerschreiben (wie zum Beispiel nach der bundesweiten Bahn-Sabotage kurz vor dem G20-Gipfel). Demonstrationen wurden hier angekündigt und organisiert, und vor allem wurde hier auch viel über Taktiken und Theorien linksradikalen Widerstands diskutiert. Das alles ist jetzt weg – und das ist auch für die Sicherheitsbehörden ein Problem.

"Linksunten hatte nicht nur 2.5 Millionen Linksaktivisten als Kunden, sondern auch sämtliche Sicherheitsbehörden Deutschlands", sagt Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg, gegenüber VICE. "Auch die Polizei hat die Seite benutzt, um Lagebild-Einschätzungen und Ermittlungsansätze zu bekommen. Indymedia hat zum Beispiel erheblich dazu beigetragen, eine ziemlich gute Lagebeurteilung vor dem G20-Gipfel zu bekommen."

Dass linksunten jetzt offline sei, erschwere deshalb die Ermittlungen. Da auf der Seite Straftaten verabredet worden seien, sei das Verbot natürlich berechtigt, sagt Reinecke. "Die Frage ist aber, macht das Sinn? Wenn so etwas verboten wird, wird die Subkultur dadurch weiter in den Untergrund getrieben." Das Verbot sei also alles andere als produktiv. "Ich finde das nicht unbedingt nachhaltig."

Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum die Sicherheitsbehörden sich mit indymedia eine wichtige Quelle selbst zugeschüttet haben: Antifa-Aktivisten hatten auf der Seite auch regelmäßig Recherche-Ergebnisse zu rechtsextremen Strukturen veröffentlicht, die auch für die Ermittlungsbehörden relevant waren.

Zwei Beispiele aus dem letzten Jahr: Als Aktivisten der Antifa die Vernetzungen sämtlicher an dem Überfall auf Connewitz beteiligten Neonazi-Hooligans recherchierten und online stellten, gab die Polizei selbst offen zu, dass das die Ermittlungen voranbringen würde. Und als im Junitausende WhatsApp-Nachrichten aus einer internen Gruppe der AfD Sachsen-Anhalt auf linksunten auftauchten, kündigte die Bundespolizei Ermittlungen gegen einen ihrer eigenen Beamten an, der in der Gruppe offen von einem Bürgerkrieg gegen "Muselmane" fantasiert hatte.

Neben diesen spektakulären Einzelfällen war auf linksunten über die Jahre aber auch ein umfassendes Archiv rechtsextremer Aktivisten und ihrer Verknüpfungen gewachsen. An keinem anderen Ort im Internet konnte man so detaillierte Informationen zu Einzelpersonen, Gruppierungen und Aktionen finden wie auf linksunten. Dass diese Informationen jetzt erstmal nicht mehr gebündelt zugänglich sind, ist nicht nur für Journalisten ein Verlust, sondern auch für die Behörden.

Kurz: Durch dieses Verbot hat der Staat sich eine wichtige Informationsquelle über linke, aber auch über rechtsextreme Strukturen selbst abgedreht. Allzu große Sorgen, dass das lange so bleibt, macht sich Reinecke allerdings nicht. Linksunten, glaubt er, werde bald wieder da sein: "Die Betreiber suchen sich einfach einen anderen Server im Ausland und betreiben die Seite weiter. Da kann man als deutscher Staat relativ wenig machen."

Warum die Seite dann überhaupt verboten wurde? "Das ist natürlich Wahlkampfgetöse", glaubt Reinecke. "Das wurde jahrelang geduldet, und jetzt geht man so kurz vor der Wahl so entschlossen dagegen vor."

Weblink:

https://www.vice.com/de/article/a334nj/mit-dem-indymedia-verbot-haben-sich-die-behorden-selbst-ins-bein-geschossen

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