AG Reutlingen zur Verwertbarkeit von Bodycam-Aufzeichnungen in einer Wohnung im Strafverfahren

10.08.2021

AG RT, Beschluss vom 10.08.2021, Az. 5 UR II 4/21 L und AG RT, Beschluss vom 18.08.2021, Az. 5 UR II 7/21 und 5 UR II 7/21 L Schlagworte: Bodycam, PolG, StPO, Verwertbarkeit.
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Beschluss vom 10.08.2021, Az. 5 UR II 4/21 L

Leitsätze: 

  1. Es ist das nach §§ 44 Abs. 6, 132 PolG BW befasste Gericht unmittelbar und uneingeschränkt auf Grundlage von Art. 13 Abs. 5 GG verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach den Vorschriften des Polizeigesetzes Baden-Württemberg vollumfänglich zu überprüfen, wobei die Prüfung, neben den sonstigen landesrechtlichen Voraussetzungen, bereits das dem Einsatz des technischen Mittels vorangehende Betreten der Wohnung erfasst.
  2. Zweifelhaft ist, ob und unter welchem Voraussetzungen die allgemeine Vorschrift des § 163 StPO die notwendige Grundlage für die sachliche Überführung der Aufnahmen in ein Ermittlungsverfahren und weitere Verarbeitung dort sein kann.

 

Orientierungssatz: 

Die Voraussetzungen für den Einsatz des technischen Mittels Bodycam zum Zwecke der Gefahrenabwehr bestimmen sich, ausgehend von einer ex ante Erkenntnislage, aus der verobjektivierten Sicht eines fähigen und sachkundigen Polizeibeamten (hierzu: VG Freiburg, Urteil vom 14. Dezember 2005 - 2 K 1550/05). Dabei kann wegen der Gefahr eines Zirkelschlusses von einer späteren eingetretenen Störung (oder deren Fehlen oder einem Wegfall) nur eingeschränkt geschlossen werden auf die Richtigkeit der polizeilichen Gefahrenannahme, die zur Einsatzentscheidung geführt hat. Die Herstellung von Aufzeichnungen mittels des technischen Mittels Bodycam dient nicht der Einsatzdokumentation oder der haftungsrechtlichen Absicherung der PolizeibeamtInnen. Das gilt entsprechend, wenn das technische Mittel aus Sicht eines verständigen Bürgers in der Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise lediglich zur Beweismittelgewinnung für ein erwartetes Strafverfahren eingesetzt wurde oder das vorab auszuübende präventiv-polizeiliche Einsatzermessen ausgefallen ist oder dessen tatsächliche Grundlagen undokumentiert geblieben sind. In diesen Fällen scheidet regelmäßig eine so genannte doppelfunktionale Maßnahme aus, die „auch“ präventiv-polizeilichen Charakter hat oder zumindest haben kann (hierzu: VGH München, Beschluss 5. November 2009 – 10 C 09.2122, BeckRS 2009, 41748, m.w.N.).

 

Tenor: Jede weitere Verarbeitung der vom Polizeipräsidium Reutlingen am ... in der Wohnung des Betroffenen und der Frau ... angefertigten Bild- und Tonaufzeichnung wird untersagt.

Beschluss vom 18.08.2021, Az. 5 UR II 7/21 und 5 UR II 7/21 L

Leitsätze:

  1. Nach § 44 Abs. 6 PolG-BW muss die Rechtmäßigkeit des Einsatzes des technischen Mittels Bodycam richterlich festgestellt werden. Ansonsten ist jedwede Zweckumwidmung und weitere Verarbeitung nicht zulässig. Es ist das Amtsgericht unmittelbar und uneingeschränkt auf Grundlage von Artikel 13 Abs. 5 GG verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach den Vorschriften des Polizeigesetzes Baden-Württemberg vollumfänglich zu überprüfen. Die Prüfung umfasst bereits das dem Einsatz des technischen Mittels vorangehende Betreten der Wohnung.
  2. Wird der Einsatz der Bodycam dem Betroffenen nicht offen angekündigt, betrifft das einerseits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Maßnahme und stellt andererseits die tatsächliche Geeignetheit des Einsatzes des technischen Mittels in Zweifel.
  3. Von einem Störer der mit Handschließen gefesselt und am Boden abgelegt ist geht in der Regel keine Gefahr im Sinne des § 44 Abs. 5 Satz 2 PolG-BW. Eine dringend Leibes- und Lebensgefahr besteht für die Polizeibeamten dann in der Regel nicht mehr. Die Ehre wird durch § 44 Abs. 5 Satz 2 PolG-BW nicht geschützt. Strafbare Beleidigungen rechtfertigen nicht den Einsatz des technischen Mittels Bodycam in einer Wohnung.
  4. Verfassungsrechtlich zweifelhaft ist, ob und unter welchem Voraussetzungen die allgemeine Vorschrift des § 163 StPO die notwendige Grundlage für die sachliche Überführung der Aufnahmen in ein Ermittlungsverfahren und weitere Verarbeitung dort sein kann.

Tenor: Jede weitere Verarbeitung der vom Polizeipräsidium Reutlingen (Polizeiposten ...) in der ... Straße .in Reutlingen am ... in der Wohnung des Betroffenen ... angefertigten Bild- und Tonaufzeichnungen (Video Nrn. 1, 2, 3, 4, 5 und 6) wird untersagt.

 

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